Die sportliche Technik im Reißen von männlichen internationalen Gewichthebern: Eine Langzeitanalyse
von Dr. Ingo Sandau
Theoretischer Hintergrund und Anliegen
Im Reißen existieren viele Untersuchungen zu kinematischen Merkmalen der Hantelbewegung (Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung). Die Analyse der Hantelbewegung ist im Gewichtheben ein einfaches Mittel zur Beurteilung der sportlichen Technik, weil in der Hebung Sportler und Hantel ein gemeinsames System bilden. Aufgrund dieser Beziehung kann von der Hantel- auf die Körperbewegung geschlussfolgert werden. Fehler in der Körperbewegung eines Athleten wirken sich deshalb auf die kinematische Struktur der Hantelbewegung aus. So konnte bspw. nachgewiesen werden, dass eine zu große Kniewinkelöffnung am Ende der 1. Zugphase einen Geschwindigkeitsverlust an der Hantel in der Kniepassage verursacht. Ein Geschwindigkeitsverlust an der Hantel stellt einen sporttechnischen Fehler dar. Bislang wurden Untersuchungen zur Hantelbewegung im Gewichtheben nur bei einzelnen Wettkämpfen oder Trainingsexperimenten durchgeführt. Längsschnittuntersuchungen zur sportlichen Technik im Reißen existieren nicht. Es ist somit unklar, ob sich die sportliche Technik im Reißen auf internationaler Bühne über mehrere Jahre modifiziert hat oder gleich geblieben ist. Demzufolge ist auch nicht bekannt, ob sich das Gewichtheben sporttechnisch entwickelt oder die Ausführung über mehrere Jahre konstant bleibt.
Das Anliegen der Autoren ist es, anhand von Analysen der kinematischen Struktur der Hantelbewegung im Reißen herauszufinden, ob Veränderungen in der
sportlichen Technik im Längsschnitt nachzuweisen sind.
Untersuchung
Die Wissenschaftler analysierten mit dem Messsystem Realanalyzer (eine Software zur Messung der Hantelbewegung im Gewichtheben über die Videobildanalyse; entwickelt vom Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig) die Hantelbewegung im Reißen bei den Olympischen Spiele von 2004 sowie den Weltmeisterschaften von 2007, 2011 und 2014. Es wurden die sechs besten männlichen Athleten aller acht Gewichtsklassen berücksichtigt. Die Sportler wurden aufgrund ihres Körpergewichts in eine leichte (-56kg, -62kg, -69kg, -77kg) und eine schwere (-85kg, -94kg, -105kg, +105kg) Gruppe aufgeteilt. Basierend auf der Hantelbewegung wurden folgende Parameter berechnet (Abb. 1):
- F1 = maximale vertikale Beschleunigungskraft in 1. Zugphase (% der Hantellast)
- F2 = minimale vertikale Beschleunigungskraft in der Kniepassage (% der Hantellast)
- F3 = maximale vertikale Beschleunigungskraft in 2. Zugphase (% der Hantellast)
- v1 = maximale vertikale Geschwindigkeit in 1. Zugphase (m/s)
- v2 = minimale vertikale Geschwindigkeit in der Kniepassage (m/s)
- vmax = maximale vertikale Geschwindigkeit in 2. Zugphase (m/s)
- δab = Senkweg der Hantel vom oberen Umkehrpunkt bis in den Hockesitz (m)
- vmin = maximale Senkgeschwindigkeit der Hantel nach dem oberen Umkehrpunkt (m/s)
- tUmgr = Umgruppierzeit (Zeitspanne von vmax bis vmin, ms)
Zusätzlich wurde die Wettkampfleistung im Reißen und das Alter der Sportler verglichen.
Abbildung 1
Ergebnisse und sportpraktische Ableitung
Die Autoren konnten aufzeigen, dass für beide Gewichtsgruppen über die Jahre deutliche Veränderungen nachweisbar sind. So verringert sich im Längsschnitt systematisch die v1, während die F3 und die vmax deutlich ansteigen (Abb. 2 & 3). Zudem konnten sie kenntlich machen, dass sich im Gegenzug die vmin und die tUmgr tendenziell erhöhen (Abb. 4). Trotz der Veränderungen in der kinematischen Struktur der Hantelbewegung blieb die Wettkampfleistung der Sportler von 2004 bis 2014 konstant. Die Ergebnisse belegen, dass sporttechnische Entwicklungen im Reißen vorhanden sind, diese jedoch im Ergebnis nicht zu höheren Wettkampfleistungen (Reißen) führten. Die über die Jahre modifizierte Beschleunigungsphase könnte hierfür eine Erklärung sein. Eine Umgestaltung der Beschleunigungsphase in Form einer geringeren v1, höheren F3 und höheren vmax scheint sich ungünstig auf das Umgruppieren auszuwirken (höhere vmin, höhere tUmgr).
Abbildung 2
Abbildung 3
Abbildung 4
Diese Zusammenhänge sind wie folgt zu erklären:
Damit bei einer geringen v1 die notwendige vmax erreicht werden kann, muss in der 2. Zugphase eine entsprechend höhere Beschleunigung aufgebracht werden (nachgewiesene Erhöhung der F3). Eine übermäßig hohe Beschleunigung in der 2. Zugphase kann allerdings dazu führen, dass das Absenken des Körpers nach vmax negativ beeinträchtigt wird. Ein verspätetes Absenken des Körpers nach vmax verlängert die Zeit bis die Hantel wieder abgebremst werden kann (tendenzielle Erhöhung tUmgr) wodurch parallel die Senkgeschwindigkeit der Hantel zunimmt (tendenzielle Zunahme der vmin). Eine geringere v1 zum Ende der 1. Zugphase kann zwar das Risiko für einen Geschwindigkeitsverlust in der Kniepassage verringern, gleichzeitig vergrößert sich jedoch das Risiko die Umgruppierphase zu verschlechtern.
Rezension
Die Autoren haben dargestellt, dass sich die sportliche Technik im Längsschnitt deutlich verändert hat, sie können jedoch nicht die Ursache benennen. Zwar steht die Hantelbewegung mit der Körperbewegung in einem engen Zusammenhang, dennoch kann keine explizite Aussage zur Körperbewegung getroffen werden. Die Ursache für die Umstrukturierung der Beschleunigungsphase innerhalb der 10 Jahre ist somit nicht klar. Denkbar sind zwei Szenarien: 1. die Körperposition/Körperbewegung in der Beschleunigungsphase ist unverändert, jedoch wird in der 1. Zugphase bewusst weniger Kraft vom Sportler auf die Hantel übertragen (geringere Kraft = geringere Beschleunigung = geringere v1); oder 2. die Körperposition/Körperbewegung wurde in der Beschleunigungsphase bewusst verändert, wodurch indirekt nur eine geringere Kraftwirkung in der 1. Zugphase aufgebracht werden kann. Diese Erklärungen sind spekulativ. Dennoch ist anzunehmen, dass eine andere Startstellung in Form einer geringeren Schultervorlage (u.a. kleinerer Kniewinkel) zu anderen Randbedingungen für die Erzeugung einer Kraftwirkung am Start führt. In diesem Zusammenhang wurde bereits nachgewiesen, dass eine modifizierte Startstellung zu einer anderen Beschleunigungswirkung an der Hantel in der Beschleunigungsphase führt (siehe Digest #3). Die Startposition ist demnach ein entscheidendes Stellglied für die gesamte Hebung und sollte deshalb im Trainingsprozess optimiert werden.
Weiterhin kann abgleitet werden, dass die sportliche Technik im Reißen ein sehr komplexes Gefüge ist. Alle Bewegungsphasen stehen in einem engen Zusammenhang, weshalb sporttechnische Optimierungen immer im Gesamtkontext betrachtet werden müssen. Die „Güte“ einer sportlichen Technik muss stets auch nach der Zweckmäßigkeit beurteilt werden. Werden Modifikationen herbeigeführt, dient der Bezug zur gehobenen Last als Gradmesser für die Sinnhaftigkeit einer Technikumstellung. Veränderungen der sportlichen Technik ohne die Erhöhung der Wettkampfleistung sind als unzweckmäßig einzuordnen, besonders dann, wenn im Ergebnis der Umstellungen andere Teilbewegungsphasen sogar sporttechnisch schlechter als vorher ausgeführt werden.
Sandau, I. et al. (2016). Snatch technique of male international weightlifters: A long-term analysis. EWF Scientific Magazine, 2 (5),
6-15. [LiDa]