#5: A gender-based kinematic and kinetic analysis of the snatch lift in elite weightlifters in 69-kg category

Eine geschlechterbezogene kinematisch-kinetische Analyse des Reißens bei Elite-Gewichthebern der Gewichtsklasse -69kg

von Dr. Ingo Sandau

Theoretischer Hintergrund und Anliegen

 

Das Gewichtheben ist bislang als Männerdomäne bekannt, weshalb es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen im Frauengewichtheben gibt. Die vorhandenen Analysen für Frauen konnten aufzeigen, dass sich im Laufe der Jahre die sportliche Technik verändert hat. Dies betrifft die Krafteinsätze an der Hantel und die Ortskurve der Hantel selbst. Im direkten Vergleich der Frauen zu den Männern konnten ebenfalls Unterschiede gekennzeichnet werden: Frauen verrichten im 1. Zug des Reißens eine geringere mechanische Arbeit, sie beugen ihre Knie in der Kniepassage weniger und benötigen längere Umgruppierzeiten.

 

Bisherige Untersuchungen zwischen Männern und Frauen haben nicht das Körpergewicht berücksichtigt. Das Anliegen des Autors ist es, in der Gewichtsklasse -69kg die sportliche Technik von Männern und Frauen unabhängig des Körpergewichts zu vergleichen.

 

Untersuchung

 

Der Wissenschaftler führte zur Weltmeisterschaft 2010 dreidimensionale (3D) kinematische Analysen durch. Hierzu wurden die Hebungen beider Geschlechter mit zwei Videokameras aufgezeichnet. Im Anschluss erfolgte eine manuelle Digitalisierung von Körper-/Gelenkpunkten aus denen ein biomechanisches Körpermodell erstellt wurde. Das 3D-Körpermodell ermöglichte die Berechnung von Körperwinkeln und Körperwinkelgeschwindigkeiten sowie Hantelwegen und Hantelgeschwindigkeiten.

Ergebnisse und sportpraktische Ableitung

 

Deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen waren für die Hantelgeschwindigkeit in den einzelnen Teilbewegungsphasen nachweisbar. Im 1. Zug erreichen die Frauen tendenziell eine geringere vertikale Hantelgeschwindigkeit als die Männer, wogegen die Frauen zum Ende des 2. Zugs eine signifikant höhere vertikale Hantelgeschwindigkeit benötigen (Abb. 1, * = statistisch signifikanter Unterschied). Bei den Parametern der Ortskurve konnten keine Differenzen ausfindig gemacht werden (Abb. 1 & Abb. 2).

Abbildung 1

Abbildung 2

Bezogen auf die Körperbewegung erreichen Frauen gegenüber Männern kleinere maximale Winkelöffnungen im Knöchel (1. Zug) und im Knie (1. Zug und 2. Zug) (Abb. 3, * = statistisch signifikanter Unterschied). Trotz der geringeren Winkelöffnungen konnten für die Athletinnen größere Winkelgeschwindigkeiten im 2. Zug für die Knöchel- und Hüftöffnung nachgewiesen werden. Im 1. Zug erreichen die Frauen dagegen eine geringere Öffnungsgeschwindigkeit im Hüft- und Knöchelwinkel als die Männer (Abb. 4, * = statistisch signifikanter Unterschied).

Abbildung 3

Abbildung 4

Die nachgewiesenen Unterschiede verdeutlichen, dass Frauen einen anderen Krafteinsatz an der Hantel zeigen, da sich die kinematische Struktur in den einzelnen Teilbewegungsphasen unterscheidet. Der Autor führt die Unterschiede in der Beschleunigungsphase auf geringere Kraftfähigkeiten der Frauen zurück. Die nachgewiesene höhere vertikale Hantelgeschwindigkeit zum Ende des 2. Zugs wird als Ausdruck einer uneffektiven sporttechnischen Ausführung gewertet.

 

Rezension

 

Der Autor konnte mit seiner Untersuchung Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Beschleunigungsphase des Reißens aufdecken. Die Unterschiede sind ursächlich auf Gelenkebene zu sehen. Die langsameren Winkelöffnungsgeschwindigkeiten im 1. Zug sind Ausdruck geringerer Kraftfähigkeiten der Muskeln in den unteren Extremitäten, während die höheren Winkelöffnungsgeschwindigkeiten im 2. Zug bei der identischen Hantellast höhere Kraftfähigkeiten bedeuten. In der Beschleunigungsphase bilden Sportler und Hantel ein gemeinsames System, sodass die höheren oder geringeren Winkelgeschwindigkeiten in den Gelenken direkt die Hantelgeschwindigkeit bestimmen. Doch warum unterscheiden sich hier Männer und Frauen? Der Autor führt die Unterschiede auf die geringeren Kraftfähigkeiten bei Frauen zurück. Diese Erklärung ist für die Veränderungen im 1. Zug nachvollziehbar. Dennoch zeigen Frauen im 2. Zug höhere Winkelgeschwindigkeiten und eine höhere Hantelgeschwindigkeit, was wiederum höhere Kraftfähigkeiten bedeutet und der These widerspricht. Wie ist das zu erklären? Zunächst muss berücksichtigt werden, dass die Kraft für die Beschleunigung von Körper und Hantel aus den Muskeln der unteren Extremitäten erzeugt wird. Diese Muskeln können abstrakt als Gelenkantriebe beschrieben werden. Die Gelenkantriebe erzeugen eine Rotation der einzelnen Segmente in den Gelenken (Knöchel, Knie und Hüfte) und bewegen so Körper und Hantel. Je nach Körperhaltung in der Beschleunigungsphase (Start vs. Beginn 2. Zug) bestehen unterschiedliche Anforderungen an die Gelenkantriebe. Während im 1. Zug die Hüftgelenkantriebe einen größeren Anteil zur Beschleunigung der Hantel leisten müssen, sind im 2. Zug die Kniegelenkantriebe stärker beteiligt. In der Extension besitzen Frauen gegenüber den Männern verhältnismäßig stärkere Knie- als Hüftgelenkantriebe. Im 1. Zug limitieren die Kraftrückstände der Hüftgelenkantriebe deshalb vermutlich die Beschleunigung der Hantel (geringere Winkelöffnungsgeschwindigkeiten). Erst im 2. Zug gelingt es den Frauen die stärkeren Kniegelenkantriebe besser einzusetzen, wodurch die Hantel auf eine höhere Geschwindigkeit beschleunigt wird.

 

Doch warum benötigen Frauen überhaupt eine höhere vertikale Hantelgeschwindigkeit als Männer? Theoretisch würde es ausreichen, wenn die Hantel im 2. Zug nur auf das Niveau der Männer beschleunigt wird, auch wenn die Hantel zum Ende des 1. Zugs langsamer ist. Eine mögliche Erklärung ergibt sich, wenn die maximale Zughöhe und die Höhe der Hantel zum Ende des 2. Zugs berücksichtigt wird. Prinzipiell gibt die maximale Hantelgeschwindigkeit Auskunft darüber, wie hoch die Hantel nach dem Ende der Beschleunigungsphase von allein fliegt. Frauen und Männer besitzen die gleiche Höhe der Hantel zum Ende der Beschleunigungsphase (Ende 2. Zug = Ausgangslage für die nachfolgende Treibstrecke). Auch die Treibstrecke bis zum oberen Umkehrpunkt (maximale Zughöhe) ist identisch. Dennoch benötigen Frauen für die gleiche Treibstrecke eine höhere Geschwindigkeit. Aus physikalischer Sicht ist das nicht allein über die maximale Hantelgeschwindigkeit zu erklären, da eine höhere Geschwindigkeit eine längere Treibstrecke zur Folge hat (Treibstrecke = vmax²/2g). Die höhere Treibstrecke der Männer bei einer geringeren maximalen Hantelgeschwindigkeit kann nur mit der sogenannten „Restarbeit“ erklärt werden. Die Restarbeit ist der Betrag, der die theoretische Treibstrecke (aufgrund der maximalen Hantelgeschwindigkeit) bis zum oberen Umkehrpunkt (maximale Zughöhe) verlängert. Es wird angenommen, dass die Restarbeit ein Bestandteil des Umgruppierens ist, den der Sportler mit einem aktiven Krafteinsatz der oberen Extremitäten leistet. Männer zeigen demnach eine höhere Restarbeit als Frauen, da sie eine längere Treibstrecke bei geringer maximaler Hantelgeschwindigkeit erzielen. Eine hohe Restarbeit ist gewollt, da hierdurch die Effektivität der Hebung erhöht wird. Die geringere Restarbeit der Frauen kann dadurch erklärt werden, dass sie im Vergleich zu den Männern auch in den oberen Extremitäten ein geringeres Kraftvermögen besitzen und deshalb die Treibstrecke nicht so stark vergrößern können. In der Folge wird dies durch eine höhere Hantelgeschwindigkeit kompensiert, was allerdings zur Folge hat, dass dadurch die gehobenen Lasten geringer sind. Ausgehend der aufgezeigten Ergebnisse wäre die gezielte Kräftigung der oberen Extremitäten demnach ein Ansatz, die Effektivität des Reißens bei den Frauen zu verbessern und die Wettkampfleistung zu erhöhen.


Harbili, E. (2012). A gender-based kinematic and kinetic analysis of the snatch lift in elite weightlifters in 69-kg category. Journal of Sports Science and Medicine, 11(1), 162-169. [LiDa]

 


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